FORSCHUNG

Die Vorstellungen von und die Identifikation mit "Europa"

Saskia Langer

 

Eine Untersuchung der Lernendenperspektive im transnationalen Bildungsraum.

 

Schüler:innen sind als „Adressaten“ von Europabildung und in ihrem Alltag mit einer Vielzahl von verschiedenen Konzeptionen von Europa konfrontiert, mit welchen sie sich auseinandersetzen und über welche sie ihr eigenes Urteil bilden können. In den gesellschaftlichen sowie bildungspolitischen Diskursen wird Europa wahlweise als politischer, kultureller, geographischer, wirtschaftlicher oder historischer Raum, als Werte-, Rechte- oder Erfahrungsgemeinschaft, oder als Bezugspunkt einer europäischen Gesellschaft verstanden. Diese Forschung untersucht, welche Vorstellungen von Europa die Schüler:innen (re)produzieren und gibt dadurch Aufschluss darüber, welche Wirkmächtigkeit die in den Curricula verankerten Europavorstellungen und die schulische Europabildung haben sowie wie Schüler:innen sich selbst in den Europadiskursen positionieren und als welche Subjekte sie sich verstehen.

 

Als Untersuchungsraum dient die sogenannte Großregion, eine grenzübergreifende Region zwischen Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien, die zahlreiche transnationale Verflechtungen aufweist und somit als eigene transnationale Region verstanden werden kann. Sie bildet einen gemeinsamen, länderübergreifenden Handlungs- und Erfahrungsraum für ihre Bewohner:innen, doch es bleibt zu untersuchen, ob in ihr auch die Potenziale eines transnationalen Bildungsraums genutzt werden. Um eine Grundlage zu schaffen, die für alle untersuchten Regionen gleichermaßen gilt, wurden die Ziele der Europäischen Union für die Bildung über Europa analysiert. Der Rat der EU hat Empfehlungen zur Förderung gemeinsamer Werte, inklusiver Bildung und der europäischen Dimension des Unterrichts formuliert (2018). Die in diesem Dokument festgelegten Ziele der Bildung über Europa sind die Stärkung der "europäischen" Werte und "europäischen" Identitäten sowie die Förderung einer aktiven und kritischen Bürgerschaft. Diese Empfehlungen tendieren dazu, die entgegengesetzten Ziele einer positiven Identifikation auf der einen Seite und einer kritischen Reflexion auf der anderen Seite zu fordern. Infolgedessen bewegen sich die nationalen oder regionalen Lehrpläne zwischen diesen beiden Extremen und berücksichtigen diese Empfehlungen in unterschiedlichem Maße. Darüber hinaus beruhen diese Lehrpläne auf unterschiedlichen Konzeptionen von Europa (Langer & Mönter 2022).

 

In Anlehnung an die Perspektive der "Subjektivierung" (Mecheril 2014) werden für diese Forschung die Lernenden als Individuen verstanden, die von Institutionen wie der Schule in Form ihrer Lehrpläne und der politischen Vorgaben als Subjekte angesprochen werden, die bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln sollen. Da die Ordnungen von Differenz und Zugehörigkeit(en) nur performativ aufrechterhalten werden, dieser Perspektive bereits Kontingenz inhärent. Die empirische Studie untersucht daher, wie sich die Lernenden im Feld der so genannten "Adressierungen" (Rose 2019) positionieren. Um diese Untersuchung zu ermöglichen, werden die Perspektiven der Schüler:innen in einem Mixed-Methods-Design hinsichtlich sieben Dimensionen untersucht: Vorstellungen von Europa, Identifikation mit Europa, Einstellungen zu Europa, schulische Bildung über Europa, wahrgenommene Partizipationsmöglichkeiten, die Vorstellung von einem zukünftigen Europa und die Reflexion der eigenen Sozialisation und Einbindung in gesellschaftliche Machtstrukturen.
In einer selbstkonstruierten, halbstandardisierten Fragebogenstudie wurden 590 Schüler:innen zu ihren Vorstellungen von Europa – als politischem, kulturellem, geografischem, wirtschaftlichem oder historischem Raum –, ihrer Identifikation mit Europa, ihren Einstellungen zu Europa und der EU im Besonderen, der schulischen Bildung über Europa, den wahrgenommenen Möglichkeiten der Partizipation in Europa und ihren transnationalen Aktivitäten in der Großregion befragt. Die Besonderheit des Fragebogens besteht darin, dass er nicht vorgibt, was unter Europa zu verstehen ist. Durch offene Fragen ist es möglich, unerwartete Aspekte der Vorstellungen von Europa und der europäischen Identität zu erfassen. Diese Items wurden mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckart (2017) ausgewertet und in mehreren Schritten unter Berücksichtigung von Interkoderreliabilität Item-übergreifende Kategorien gebildet, wodurch auch eine Einbettung der offenen Fragen in die quantitative statistische Auswertung möglich war.

 

Die Fragebogenstudie wird durch ein Gruppeninterview und eine Gruppendiskussion ergänzt. Im Gruppeninterview wurde die Empfehlung des Rates der EU diskutiert, die das Ziel formuliert, die Identifikation der Schüler:innen mit Europa zu fördern. Die Schüler:innen bezogen sich dabei auch auf ihre eigenen Erfahrungen und versuchten einzuschätzen, ob dieses Ziel an ihrer Schule verfolgt wurde. Das Gruppeninterview wird dahingehend untersucht, wie die Schüler:innen ihre eigene Einbettung in Machtstrukturen reflektieren. Die Gruppendiskussion thematisiert die Zukunft Europas. Die wahrgenommene Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten, ist die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit, die in vielen Konzepten von Europabildung das Bildungsziel darstellt. Da jedoch in der Fragebogenstudie die Mehrheit der Schüler:innen angaben, Europa nicht mitgestalten zu können, wird sich dieser wahrgenommenen Ungestaltbarkeit über die Entwicklung einer idealen Zukunft angenähert. In der Gruppendiskussion wird untersucht, ob die Schüler:innen sich gegenseitig als europäische Subjekte adressieren und ob sie sich selbst als solche positionieren.

 

LITERATUR

1 Der Rat der Europäischen Union (2018). Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2018 zur Förderung gemeinsamer Werte, inklusiver Bildung und der europäischen Dimension im Unterricht (2018/C 195/01).

2 Quenzel, G. (2005). Konstruktionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld.

3 Abels, H. (2010). Identität. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden.

4 Küppers, A., Pusch, B. & Semerci, U. P. (Hrsg.) (2016). Bildung in transnationalen Räumen. Education in Transnational Spaces. Wiesbaden.