Unterrichten

Europadidaktik

Europa ist ein sozialer, politischer, kultureller und ökonomischer Raum, der von einem kontinuierlichen Verständigungsprozess geprägt ist. So existieren nebeneinander verschiedene gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was Europa ausmacht. Der Aushandlungsprozess darüber, was Europa ist und sein soll, ist von den (politischen) Interessen verschiedener Akteur:innen geprägt. Diesen interessengeleiteten Aushandlungsprozess im Unterricht nachzuvollziehen und zu reflektieren, bildet eine Aufgabe der Europabildung. Auf dieses Wissen können Schüler:innen zurückgreifen, wenn sie sich an der zukunftsoffenen Gestaltung Europas beteiligen möchten. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Aufgabe der Europabildung, Schüler:innen zu einer aktiven und demokratischen Partizipation an der Gestaltung Europas zu befähigen. Dazu gehört neben einer politischen Partizipation zum Beispiel durch Wahlen des Europäischen Parlaments auch, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben in Europa teilnehmen zu können.

Die Allgemeine Didaktik sowie die Fachdidaktiken beschäftigen sich im Rahmen der Europabildung zum Beispiel mit der Frage, was Schüler:innen wissen und können müssen, um in Europa politisch, gesellschaftlich und kulturell aktiv werden zu können. Dabei nehmen unter anderem die Erziehung zu Toleranz und Demokratie, die kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Integration und aktuellen Entwicklungen sowie die Orientierung an der Lebenswelt der Schüler:innen zentrale Stellenwerte ein. Schüler:innen sollen lernen, politische Entwicklungen zu analysieren und eine eigene Position dazu zu entwickeln, sowie Möglichkeiten der Partizipation kennen lernen. Die Europäische Grundrechtscharta, welche Toleranz gegenüber unterschiedlichen kulturellen, religiösen und politischen Weltanschauungen sichert, bildet die Grundlage für die Auseinandersetzung mit Europa.1,2

Die folgenden Abschnitte orientieren sich an dem Orientierungs- und Handlungsrahmen für das übergreifende Thema Europabildung in der Schule (2019), welcher für die Bildungsregion Berlin Brandenburg entwickelt wurde. Dabei handelt es sich um ein Konzept für Europabildung unter vielen, zum Beispiel hat der Europarat europabezogene Kompetenzen für eine demokratische Kultur (2016) entwickelt.3 Für die Großregion gibt es bisher kein Dokument zu Europabildung, welches die Bildungssysteme der einzelnen Regionen vereint und für alle kompatibel ist. Daher bilden die folgenden Abschnitte lediglich einen Vorschlag, wie Sie Europabildung in Ihrem Unterricht gestalten können.

 

Europabildung als Querschnittsaufgabe für Schule und Unterricht

 

Europa ist ein fächerübergreifendes Thema. Um europabezogene Kompetenzen zu fördern, kann jedes Fach einen spezifischen Beitrag leisten. Zum Teil ist ein Europabezug bereits durch die fachspezifischen Inhalte und Ziele gegeben. Zum Beispiel im Politikunterricht kann die europäische Ebene zusätzlich zur nationalen Ebene sowie Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen dargestellt werden. In den anderen Fächern können durch die Themenauswahl sowie die Wahl der Sozial- und Arbeitsform auch gezielt europabezogene Lerngelegenheiten hergestellt werden.

Mit einem erweiterten Lern- und Erfahrungsbegriff und unter der Annahme, dass politische Sozialisation in den verschiedensten Situationen stattfindet,kann auch eine entsprechende demokratische Schulkultur zur Förderung der Europabildung beitragen. Dazu kann die Vernetzung mit anderen Schulen und außerschulischen Partnern für transnationale Begegnungen, Austauschprogramme sowie die Teilnahme an Kulturprojekten und Festen genutzt werden.

 

Europakompetenz

 

In Anlehnung an die von der EU-Kommission definierten Schlüsselkompetenzen zum lebenslangen Lernen5 entwickelten Busch und Frisch (2019) ein fächerübergreifendes Kompetenzmodell für Europabildung. Anhand der vier Kompetenzbereiche „Kommunizieren und partizipieren“, „Mit Wissen umgehen“, „Urteilen und orientieren“ und „Mit kulturellem Bewusstsein handeln“ sollen Schüler:innen lernen, europabezogen leben und handeln zu können. Schüler:innen können so europabezogene politische Entscheidungen und deren Einfluss auf die eigene Lebensgestaltung nachvollziehen und die Möglichkeiten zur Partizipation eines offenen Europas nutzen. Die Kompetenzbereiche stehen in Wechselwirkungen zueinander und wurden fachübergreifend und fächerverbindend entwickelt.

 

Kommunizieren und partizipieren

Um im europäischen Rahmen das eigene Leben zu gestalten, aktiv handeln und gesellschaftlich teilhaben zu können, bedarf es der Kommunikations- und der Sprachkompetenz. Dafür sollen nicht nur die Landessprache des Wohnsitzes, sondern auch die Sprachen der Nachbarländer und anderer europäischer Länder gelernt werden. Zur Kommunikationskompetenz gehört außerdem, einen eigenen Standpunkt entwickeln, formulieren und mit anderen diskutieren zu können. 

 

Die Schüler:innen können...

  • Bewusstsein für individuelle und europäische Mehrsprachigkeit entwickeln
  • Mehrsprachigkeit leben
  • Eigenes Kommunikationsverhalten im europäischen Kontext entwickeln
  • Partizipationskompetenzen entwickeln

 

Mit kulturellem Bewusstsein handeln

Ein kulturelles Bewusstsein umfasst Wissen um die eigene kulturelle Prägung, die Herkunfts- und Alltagskultur sowie das Bewusstsein für die kulturelle Prägung von Menschen anderer Herkunft. Kultur wird hierbei als hybrid und dynamisch verstanden, wodurch sie nicht als an die Grenzen der Nationalstaaten gebunden gedacht wird. Besonders im Zusammenhang mit Europa lässt sich fragen, ob es eine europäische Kulturgemeinschaft gibt und was diese konstituiert. 

 

Die Schüler:innen können...

  • Kulturverständnis entwickeln
  • Kulturelle Akzeptanz und Toleranz leben
  • Eigene Identität in Bezug auf Kultur reflektieren
  • Ambiguitätstoleranz entwickeln

 

Mit Wissen umgehen

Neben Fachwissen über Europa, zum Beispiel geografischen Kenntnissen, Sprachkenntnissen sowie politischem und historischem Wissen, ist konzeptuelles System- und Deutungswissen von Bedeutung. Dieses hilft Schüler:innen dabei, ihre Kenntnisse einzuordnen und Zusammenhänge mit anderen Fächern, anderen Staaten sowie Schlüsselproblemen und Zukunftsfragen herzustellen. Wissen bildet außerdem die Grundlage, auf welcher Urteile und Entscheidungen gefällt werden können.

 

Die Schüler:innen können...

  • Kenntnisse zur europäischen Landeskunde anwenden
  • Institutionelles Wissen anwenden
  • Europäisches Geschichtsbewusstsein entwickeln
  • Europäische Schlüsselprobleme und Zukunftsfragen analysieren

 

Urteilen und Orientieren

Schüler:innen sollen lernen, auf der Grundlage ihres Wissens kontroverse Positionen und europäische Entscheidungsprozesse analysieren zu können. Außerdem sollen sie lernen, anhand von Kriterien Urteile darüber zu fällen, was Teil einer demokratischen Gesellschaft sein sollte. Bei dieser Auseinandersetzung sind Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität als Merkmale von Demokratie zu beachten. 

 

Die Schüler:innen können...

  • Multiperspektivität entwickeln
  • Mit Bezug auf europäische Grundrechte urteilen
  • Unter Berücksichtigung des europäischen Mehrebenensystems analysieren und bewerten

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Transnationale Europabildung
In dem von Busch, Lis und Teichmüller (2016) herausgegeben Sammelband werden theoretische Grundlagen zur Transnationalen Europabildung und Praxisbeispiele für transnationale Bildungsarbeit in der deutsch-polnischen Grenzregion behandelt.

  • Busch, M., Lis, T. & Teichmüller, N. (Hrsg.) (2016). Bildung grenzenlos vernetzen. Transnationale Bildungs- und Partizipationslandschaften in europäischen Grenzregionen. O.O..

Mehrsprachigkeitsdidaktik
Wegner und Schank (2019) sowie Frisch und Wegner (2021) diskutieren die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für Europabildung aus einer machtkritischen Perspektive und diskutieren die Chancen für Mehrsprachigkeitsbildung in der Großregion. Wegner und Vetter (2021) unterscheiden in ihrer Didaktik der Mehrsprachigkeit vier plurale Ansätze (Interkultureller Ansatz, Sprachenbewusstheit, Integrierte Sprachendidaktik, epistemische Mehrsprachigkeitsdidaktik).

  • Wegner, A. & Schank, F. (2019). Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit – Ein Konzept zur Förderung der Mehrsprachigkeit in der Großregion. In Busch, M., Frisch, J. & Wegner, A. (Hrsg.). Europa leben lernen. Apprendre à vivre l’Europe. Tagungsband zur 1. „Edu.GR“-Tagung an der Universität Trier. Trier.
  • Frisch, J. & Wegner, A. (erscheint 2021). Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit in der Großregion – ein europäisches Projekt. In Dirim, Inci (Hg.): Handbuch Mehrsprachigkeit. Wien.
  • Wegner, A. & Vetter, E. (erscheint). Didaktik der Mehrsprachigkeit.

Europabildung im Politikunterricht
Oberle (2020) erläutert die Europabildung aus der Perspektive der Politikdidaktik und diskutiert die Frage, ob die politische Forderung nach einer Förderung proeuropäischer Einstellungen und einer europäischen Identität legitim ist.

  • Oberle, M. (2020). Europabildung. In Achour, S., Busch, M., Massing, P. & Meyer-Heidemann, C. (Hrsg.). Wörterbuch Politikunterricht. Frankfurt am Main, 65-68.

Politikdidaktische Diskussion der Europabildung
In den Sammelbänden von Oberle (2015) und Weißeno (2004) stellen Autor:innen verschiedene politikdidaktische Perspektiven auf Europabildung und aktuelle Problemstellungen vor. Unter anderem wird mit dem Konzept Doing Europe eine Alternative zur Förderung von Identität aufgezeigt.

  • Oberle, M. (Hg.) (2015). Die Europäische Union erfolgreich vermitteln. Perspektiven der politischen EU-Bildung heute. Wiesbaden.
  • Weißeno, G. (Hg.) (2004). Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts. Frankfurt am Main.

Kritische Europabildung
Im Sammelband von Eis und Moulin-Doos (2018) werden Zugänge der gesellschaftswissenschaftlichen Europaforschung für die politische Europabildung fruchtbar gemacht. Dabei liegt ein Fokus auf machtkritischen Perspektiven, zum Beispiel bei der unterrichtlichen Thematisierung vom Demokratiedefizit der EU sowie der Krise der europäischen Integration.

  • Eis, A. & Moulin-Doos, C. (Hrsg.) (2018). Kritische politische Europabildung. Die Vielfachkrise Europas als kollektive Lerngelegenheit? Immenhausen bei Kassel.
 
LITERATUR

1 Busch, M. & Frisch, J. (2019). Orientierungs- und Handlungsrahmen für das übergreifende Thema "Europabildung in der Schule". Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (Hg.). Ludwigsfelde.

2 Busch, M. & Frisch, J. (2021). Handreichung für das übergreifende Thema "Europabildung in der Schule". Ludwigsfelde.

3 Europarat (2016). Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Gleichberechtigtes Zusammenleben in kulturell unterschiedlichen demokratischen Gesellschaften. Kurze Zusammenfassung. Strasbourg. https://www.sesam-gr.eu/fileadmin/user_upload/Kompetenzen_fuer_eine_demokratische_Kultur.pdf [Zugriff: 18.09.2021].

4 Eis, A. (2015). Europapolitische Kompetenzentwicklung zwischen Standardisierung und emanzipatorischer Demokratiebildung. In Oberle, M. (Hg.) (2015). Die Europäische Union erfolgreich vermitteln. Perspektiven der politischen EU-Bildung heute. Wiesbaden.

5 EU-Kommission (2018). Empfehlung des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen. Strasbourg. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32018H0604(01) [Zugriff: 18.09.2021].